Neon White löste Mitte 2022 einen kleinen Hype auf Steam aus, ist hierzulande aber völlig unbekannt. Dabei versteckt sich hier einer der besten Shooter des Jahres.
Produktionen steht. Klar, Dying Light 2 war zum Jahresbeginn ein riesiger Erfolg. Doch gegen Jahresende wurden mit Call of Duty Modern Warfare 2 und Warhammer 40.000: Darktide zwar zwei lang erwartete Highlights veröffentlicht, beiden Spielen machten aber massive technische Mängel zu schaffen und sorgten für lange Gesichter. Für unseren Dani war CoD MW2 deshalb sogar die größte Enttäuschung des Jahres.
Aber zum Glück gibt”s noch den Indie-Bereich, der 2022 die besten Shooter-Ideen hatte: Kruder Humor in High on Life, rhytmisches Ballern in Metal Hellsinger – und dann gibt”s da noch Neon White, von dem ihr vermutlich noch nie gehört habt. Ein Anime-Speedrun-FPS mit Visual-Novel-Dating-Sim-Elementen, das von den Entwicklern mit dem Slogan von Freaks für Freaks beworben wird. Klingt reichlich merkwürdig, kommt bei Steam aber auf 98 Prozent positive Nutzerwertungen. Und das sogar völlig zurecht, wie unser Test zeigt.
Gott ist ein Weeb
Die Geschichte von Neon White klingt zunächst einmal spannend und einzigartig: Ihr verkörpert den Attentäter White, einen übertrieben coolen und sarkastischen Anime-Emo-Typen, der von Gott persönlich gemeinsam mit seinem alten Team aus der Hölle gerettet wird, um seine Drecksarbeit zu erledigen.
Der Himmel leidet nämlich gerade an einer Dämoneninvasion und auf die Auftragskiller wartet eine pralle Belohnung: Wer bei der Säuberung den besten Job macht, darf anschließend im Paradies bleiben. Klingt gar nicht mal so verkehrt, oder?
Die Story steckt tatsächlich voller Twists und interessanter Ideen, die aber ratzfatz wieder zerstört werden. Das liegt vor allem an den unheimlich generischen und klischeehaften Charakteren, die nach den Farben ihrer Haare benannt sind: Red ist eine mysteriöse Verführerin, Violet ein sadistisches E-Girl und Green der brutale Bösewicht.
Es gibt ja durchaus wirklich gute Anime-Storys und Visual Novels, mit tiefgründigen Charakteren und dramatischen Plots – wir denken da etwa an Neon Genesis Evangelion oder Doki Doki Literature Club. Und es gibt Animes, die unheimlich unangenehm anzusehen sind und umgehend Fremdscham auslösen. Der Story-Teil von Neon White gehört leider zu letzterem.
Wahrscheinlich wissen das auch die Entwickler, die endlose Mengen selbstironischer Witze in die Dialoge eingebaut haben. Ungünstigerweise haben diese bei uns aber kein einziges Mal gezündet, sondern das Dialogdebakel eher noch offensichtlicher gemacht. Immerhin kann man alle Gespräche auch direkt überspringen, wenn man sich lieber auf den Shooter-Teil konzentrieren will – denn dieser ist die wahre Stärke von Neon White, für den wir die vielen Fremdschammomente der Story gerne in Kauf nehmen.
Springen, schießen, sterben
Neon White ist kein klassischer Einzelspieler-Shooter à la Doom oder Call of Duty. Vielmehr steht hier eure Geschwindigkeit im Fokus, denn ihr müsst in bester Speedrun-Manier durch knapp 100 verschiedene Level hetzen, alle Dämonen abknallen und das Ende der Karte erreichen. Je nachdem wie schnell ihr dabei seid, gibt”s am Ende eine Bronze-, Silber-, Gold- oder Ass-Medaille.
Das klingt zunächst nach simpler Highscore-Jagd, entpuppt sich beim Spielen aber als genialer Zeitfresser – selbst für Speedrun-Skeptiker. Denn Neon White perfektioniert sein geradlinige Spielidee und brilliert dabei in zwei wichtigen Shooter-Disziplinen.
Die Bewegung im Spiel funktioniert nicht nur jederzeit punktgenau, sondern werden durch das Waffen-System erst so richtig genial. Jede Waffe dient nicht nur zum Töten der Dämonen, sondern lässt sich per Rechtsklick auch abwerfen, um eine Bewegungsfähigkeit auszulösen.
Mit der Pistole könnt ihr etwa einen Doppelsprung ausführen, mit dem Gewehr durch die Luft sprinten und der Maschinenpistole wieder blitzschnell auf dem Boden landen. Unser persönlicher Favorit ist aber der Raketenwerfer, mit dem wir nicht nur Rocket Jumps à la Quake 3 vollziehen, sondern ihn auch als Enterhaken verwenden, wenn wir ihn abwerfen.
Dazu kommt das wohl beste Leveldesign, das wir dieses Jahr in einem Shooter erlebt haben. Jede Karte ist von Grund auf so konzipiert, dass es mehrere verschiedene Routen zum Ziel gibt. Das Spiel leitet euch zunächst über einen offensichtlichen Weg, der auch im späteren Spielverlauf mit etwas Übung stats schaffbar ist, selbst für Shooter-Neulinge.
Hier könnt ihr allein mit gutem Timing, optimierten Laufwegen und einem schnellen Finger am Abzug schon oft eine Goldmedaille freischalten. Wenn ihr diese erreicht habt, bekommt ihr einige Abkürzungen angezeigt, mit denen sich die begehrte Ass-Medaille erreichen lässt.
Richtig spannend wird es aber erst, wenn ihr euch selbst Gedanken macht und damit beginnt, mit eigenen Abkürzungen zu experimentieren. Die Level sind nämlich viel offener, als sie zunächst erscheinen.
Wir hätten Neon White locker in fünf Stunden durchspielen können, doch wir haben uns immer wieder dabei erwischt, abgeschlossene Maps umgehend zu wiederholen, um unsere Zeiten ein paar Sekündchen zu verbessern oder mögliche Shortcuts auszutesten.
Was für einige mühselig klingen mag, hat uns enorm viel Spaß bereitet. Das Gefühl, wenn man ein Zwei-Minuten-Level nach zahlreichen Versuchen und mit einer coolen Idee in unter 30 Sekunden absolviert, ist nämlich unbezahlbar.
Für wen lohnt sich Neon White?
Neon White ist ein sehr spezieller, aber auch ein unheimlich cooler Shooter, der euch schnell das Gefühl gibt, selbst unheimlich cool zu sein, wenn ihr mit einem halsbrecherischem Tempo durch die stylishen Maps rast.
Ihr müsst keine Speedrun-Fans sein, um mit dem Neon White Spaß zu haben. Und erst recht keine Freaks, wie die Entwickler euch glauben lassen wollen – wobei Freaks, die sich schon in anderen Spielen wie Trackmania oder Super Meat Boy stundenlang um Bestzeiten bemüht haben, sicherlich noch ein wenig mehr Spaß daran haben werden als der Durchschnittsspieler.
Einzig die Tatsache, dass die Geschichte mit ihrer Mischung aus übertriebener Dramatik, schlecht geschriebenen Dialogen und unlustiger Selbstironie so gar nicht zündet, verhindert einen Ausflug in höhere Wertungsregionen – immerhin ist das Spiel zur Hälfte eine storylastige Visual Novel.
Fazit der Redaktion
Kurz vor Weihnachten habe ich mit Steffi und Dani darüber gequatscht, was wir zwischen den Feiertagen spielen. Meine Antwort lautete: Dieselben Spiele wie immer. Spiele, die ich hasse, aber von denen ich nicht loskomme.
Ich verbringe seit Jahren einen Großteil meiner Spielzeit damit, irgendwelchen Belohnungsmechaniken hinterherzulaufen, wie etwa Rangaufstiegen in League of Legends und Hearthstone oder grinde mich durch den Battle Pass von Fortnite und CoD MW2. Dass das Spielen an sich gar nicht so viel Spaß macht, sondern nur das Gewinnen, hat mir irgendwie zu denken gegeben.
Bei Neon White habe ich das komplette Gegenteil erlebt. Das Spielprinzip ist so simpel, aber macht so viel Spaß. Selbst wenn ich 50 Mal in denselben Abgrund stürze, weil ich diesen einen unmöglichen Sprung doch noch irgendwie schaffen will. Dank dieses Tests hab” ich nun jedenfalls meinen ersten Vorsatz für 2023 sicher: Mehr Spiele spielen, die wirklich Spaß machen! Und Neon White gehört defintiv dazu.